„Der kleine Wortschatz“ Fachliteratur- Tipps aus dem Dachverband
- Die aktuellen Zeitschriften, auf die sich die Literaturhinweise beziehen,
liegen im DV aus.-
Ausgabe November / Dezember 2020
Fachliteratur- Tipps aus dem Dachverband
Mut
für Luft – Vom sinnvollen Umgang mit Regeln (Betrifft Kinder
09-10/2020, S. 24 ff)
Die
Früchte einer demokratischen, partizipativen und inklusiven
Pädagogik zeigen sich eine Generation später- z.B. an der Art, wie
kleine und große Gemeinschaften ihr Zusammenleben regeln. Gibt es
BestimerInnen? Gelten regeln immer und für alle? Gibt es
Entscheidungsspielraum und wer befindet darüber? Zugunsten der
Kinder ermutigt die Erziehungswissenschaftlerin Caroline Ali-Tani zu
einem situationsgerechten Umgang mit regeln, der sich daran
orientiert, was ein Kind kann, was es braucht und was es sich
wünscht. Antworten darauf bekommen wir – alltäglich – durch
bewusstes Beobachten und Reflektieren ihrer Bildungsprozesse.
„Zwanzig
Kinder in einem Gruppenraum. Zwanzig Persönlichkeiten mir
individuellen Bedürfnissen, Wünschen und Interessen, die vor
Neugier, Energie und Kreativität und Unbefangenheit sprudeln. Kleine
Menschen, die ihren Alltag überwiegend in Räumen verbringen, die
nicht mit ihnen, sondern von Erwachsenen gestaltet wurden, die
Verantwortung für sie tragen und auf ihre eigene Weise denken,
organisieren und strukturieren. Um zu verhindern, dass Kindern
ständig etwas passiert bzw. das Kinder ständig etwas „anrichten“
- sie können stolpern und sich verletzen, sie können sich
vielleicht sogar handgreiflich streiten oder Dinge absichtlich oder
aus Versehen kaputt machen – denken wir uns Regeln - , eindeutige
Verbote und feste Strukturen aus. Doch ist das auch langfristig
sinnvoll? Kinder vor Gefahren zu schützen ist eine unserer Aufgaben,
eine andere und ebenso wichtige ist es, ihnen Erfahrungen zu
ermöglichen: mit Dingen, mit Menschen, durch ausprobieren.
Kinder
erleben jede Situation als Lernerfahrung und jede ihrer Handlungen
hat eine Geschichte, ein Vorher und ein Nachher. Jede Aktivität der
zwanzig jungen Menschen im Gruppenraum in diesem Sinne zu verstehen,
zu ergründen und zu begleiten, scheint unmöglich, und doch bedeutet
kindgerechte und kindorientierte Pädagogik genau das: Die
Geschichten hinter den Aktivitäten zu verstehen, zu sehen und
zuzulassen und sich zurückzunehmen statt allzu schnell aus eigener
Perspektive heraus zu urteilen und zu handeln.“ (S. 24) Im
Folgenden erläutert die Autorin dies an einem Beispiel:
„Während
des Freispiels sind die Kinder in unterschiedlichen Ecken
beschäftigt: Drei Mädchen sitzen mit einer Erzieherin am Tisch und
malen, zwei Jungen sitzen dabei und puzzeln, einige Kinder spielen
auf der Empore und andere auf dem Bauteppich. Der vierjährige Jan
fällt mir auf. Er liegt auf einem der anderen Teppiche, schaut sich
um und weiß offensichtlich nicht so recht, womit er sich
beschäftigen soll. Mehrmals blickt er auch zu der Erzieherin am
Tisch, aber diese bemerkt ihn nicht. Während alle anderen Kinder in
Zweier- oder Dreiergruppen spielen, scheint Jan keine
SpielpartnerInnen zu haben. Nachdem er fast eine halbe Stunde lang
einfach so da liegt, gesellen sich zwei Jungen, Mert und Leon, die
vorher mit Autos gespielt hatten, zu ihm auf den Teppich. Sie haben
wohl das Interesse an ihrem Autospiel verloren. Nach einer kurzen
„tätigkeitslosen“ Zeit beginnen sie, sich voreinander zu
verstecken. Auch Jan macht bei diesem Spiel mit. Das Spiel ist sehr
intensiv, geschieht gänzlich non-verbal und löst große Freude bei
den drei Jungen aus. Sie klettern in das Regal neben dem Teppich,
gucken heraus, erschrecken sich, lachen und verstecken sich wieder.
Schließlich bemerkt die Erzieherin, dass die Jungen in dem Regal
hocken und ruft: „Mert! Leon! Raus da! Raus da!“ Jan klettert
noch ein weiteres Mal in das Regal und wird von der Erzieherin
ebenfalls ermahnt: „Jan! Komm da bitte raus!“
Aus
Erwachsenenperspektive macht die Regel Sinn: Ein Regal ist ein
Funktionsgegenstand, der dazu da ist, Dinge zu verstauen und
möglicherweise auch mit „gefühlten“ Sicherheitsbedenken
verknüpft, nicht für Kletteraktionen. Aus Kindersicht macht die
Regel keinen Sinn: die leeren, ebenerdigen Fächer sind kleine Höhlen
und ideale Räume, um sich zu verstecken und gegenseitig zu
erschrecken. Die Ergebnisse der Quaki-Studie 2017, in der
Kita-Qualität aus Kindersicht untersucht wurde, bestätigen die
kindliche Faszination solcher Orte und Gegenstände wie das Regal in
dieser Beobachtung und besagen, dass Kinder nicht nur Ausnahmen von
der Regel brauchen, sondern ganz konkret auch „geheime“ Orte,
die
vielseitig nutzbar sind,
die
umgedeutet werden können,
wo
sich Spielwelten entfalten und
sich
zu verstecken und zeitweilig dem Zugriff des pädagogisierten Raums
entziehen können.
Situatives,
befehlshaftes Durchsetzen einer Regel macht in Gefahrensituationen
Sinn, z.B. wenn eine Gruppe von Kindern ein gerade erst aufgestelltes
und noch nicht ausreichend abgesichertes Regal erkunden möchte. Eine
solche Grenzsetzung kommt dann am besten an, wenn eine sinnvolle
Erklärung nachgeliefert wird. Die Geschichte von unserem Regal
jedoch ist ein gutes Beispiel dafür, dass wir immer nur einen
Ausschnitt der Wirklichkeit erkennen und dabei auch schon mal
unreflektiert reagieren. Wer soll durch die Regel – „Nicht in das
Regal klettern!“ – geschützt werden? Die Kinder oder das Regal,
das ja für die Kinder angeschafft wurde? Das „Verstecken in den
Regalen“ gab den Impuls, dass Jan in soziale Interaktion mit den
anderen Jungs trat und ebenso freudige wie intensive Spieltätigkeit
erlebte. Wertvolle soziale Interaktionen, peerkulturelle Praktiken
und Spielmomente sollten für das Einhalten einer fragwürdigen Regel
nicht gestört und unterbunden werden. Um eine kindgerechte Pädagogik
umzusetzen müssen wir uns von unserem oft zweck- und
funktionsorientierten Denken lösen und den gesamten Raum inklusive
der Gegenstände, Möbel und Materialien als Spiel-, Lern- und
Erfahrungsort der Kinder denken und wahrnehmen“ (S. 25)
Digitale
Vortragsreihe: Kita in Coronazeiten (KiTa aktuell 11.2020, S. 255)
Das
Niedersächsische Institut für frühkindliche Bildung und
Entwicklung – nifbe bietet seit Anfang September eine kostenlose,
digitale Vortragsreihe zum Thema „Kita in Corona-Zeiten“ an. Die
Vorträge finden in Form digitaler Konferenzen alle 1 bis 2 Wochen
dienstags von 16:00 – 17:30 Uhr statt.
Diese
Fragestellungen stehen unter anderem im Fokus der Vorträge und
Diskussionsrunden:
Wie
sind die Bedürfnisse der Kinder und die pädagogischen Ansprüche
der Fachkräfte mit Abstandsregeln und Hygieneschutzmaßnahmen in
Einklang zu bringen?
Wie
kann die Eingewöhnung unter Coronabedingungen erfolgen?
Was
macht Corona mit den Kindern und was macht Corona mit dem Team?
Wie
kann Selbstfürsorge und Stressmanagement unter diesen besonderen
Umständen aussehen?
Referentinnen
und Referenten sind u.a. Prof. Rahel Dreyer, Prof. Dr. Jörg Maywald
und Prof. Dr. Susanne Viernickel.
Anmeldung:
https://www.nifbe.de/das-institut/veranstaltungen/veranstaltungsreihen?view=item&id=46:kita-in-corona-zeiten&catid=0
THEMENTICKER –Kita aktuell 10+11.2020:Datenschutz bei
Mitarbeiterfotos – Elternbeteiligung – Schule in Sicht –
Rassismus und Kita; klein&groß 10/20: Mitwirken:
Elternbeteiligung – Mathe schon für die Kleinsten?– Reflexion:
Powerfrau Erzieherin; Betrifft Kinder 07-10/2020: Lernen ist Leben –
Verletzendes Verhalten reflektieren – Kinderperspektivansatz –
Extremen professionell begegnen – wie junge Kinder die Pandemie
erleben; TPS 9/20: Neue Wege in der Praxisanleitung
(zusammengestellt
von Tanja Bräsen)